77.77 km
Schon vor einem Jahr hatten Valentin und ich die Idee, als Ultra-Training einmal gemeinsam von Auenstein nach Rikon zu laufen, also von West nach Ost ca. 70 km quer durch die Deutschschweiz. Eine Strecke, für die man mit dem Auto gut 1h unterwegs ist.
Die Herausforderung war so geil, dass ich sie dann gestern alleine anging. Valentin fühlte sich noch nicht fit genug für die Distanz und wollte mich aber die letzten 10 km bis Rikon begleiten.
So fuhr ich früh 7 Uhr mit dem Zug nach Aarau (ich wollte von dort starten, um auf mindestens 75 km zu kommen) und 7:30 Uhr lief ich dick eingemummelt und ziemlich müde bei nur 1 Grad los. Ich war den Vorabend länger im Ausgang gewesen und hatte dann nur 4h geschlafen. Sollte man nicht so machen. Aber wenigstens hatte ich am Abend gut und reichlich gegessen. Im Nachhinein muss ich sagen, diese Tatsache hat mich gestern dann wohl gerettet, sonst wär ich zwangsläufig vor Schwäche zusammengeklappt.
Recht flott und motiviert bin ich dann jedenfalls auf sehr bekannten Wegen aufgebrochen, liess Auenstein hinter mir und steuerte nach 11 km den ersten planmässigen Verpflegungsposten an: den Bahnhof Wildegg. Dort gabs eine Energy-Milch aus dem Kiosk, noch kurz aufs Klo und weiter gings immer der Bünz entlang durch eine Landschaft mit duftenden Feldern und Wiesen, wunderschön.
Zu diesem Zeitpunkt spürte ich deutlich (erträgliche) Schmerzen in der rechten Ferse. Sie kamen nicht überraschend, die Ferse macht mir schon seit ein paar Wochen Beschwerden, das Problem hatte ich aber monatelang auf der anderen Seite und kann es mittlerweile ganz gut einschätzen. Lange, langsame Laufeinheiten scheinen es nicht schlimmer zu machen. Es ist einfach etwas unangenehm, aber ich dachte mir so: Hallo Schmerz, schön dass Du auch mitrennst. Bin ich nicht ganz so alleine. Das war die richtige innere Einstellung.
Ich war jedenfalls guten Mutes und steuerte den Bahnhof Othmarsingen an. Dort (nach 16 km Lauf) hab ich mich dann 10min auf einen Stein gesetzt und die mitgenommenen Mandarinli-Schnitze gegessen. Lecker!
Das nächste Ziel war der Denner in Mellingen (22 km, es war ca. 10:30 Uhr). Da meine Getränkevorräte aber noch fast voll waren, hab ich mich dort nur in die Sonne auf eine Bank gesetzt und Wasser getrunken und ein paar Datteln gegessen sowie eine Packung Darvida Choco (normales Darvida ist mir zu trocken…).
An diesem Punkt des Laufes spürte ich schon stark die schweren Beine und das sollte die nächsten 10 km eher schlimmer werden. Da alles vom Bauch abwärts weg tat, fielen aber wenigstens meine Schmerzen in der rechten Ferse nicht mehr auf.
Trotz Muskelschmerzen und mittlerweile in der prallen Mittagssonne gings jedenfalls weiter durch Felder, Dörfer und einen Wald. Die Orientierung fiel mir nicht leicht, ein paar Mal bog ich falsch ab und hab die ausgedruckten Karten nur begrenzt nutzen können. Zum Glück war die Route auf Runtastic hinterlegt.
11 Uhr kurz vor Niederrohrdorf hab ichs in der Thermowäsche nicht mehr ausgehalten und mich an einem Waldstück umgezogen. Neue Kleidung: Leibli, T-Shirt und kurze Laufhose. Es war höchste Zeit.
Trotzdem gings mir nicht gut. Die Sonne strengte an, mir war übel. Vorgezogene Mittagspause nach 27 km vorm Denner in Oberrohrdorf. Mir war nur nach Flüssignahrung: ich trank 1x 250ml Redbull, 1x 500ml Süssmolke und etwas Wasser und musste mich echt zwingen, das gekaufte Milchbrötchen zu essen.
Weiter gings ca. 12 Uhr aus Oberrohrdorf heraus den Berg hinauf. Was für eine Durststrecke! Mir wars schlecht und alles tat weh und ich hatte doch noch 46 km vor mir… in dieser Krise hat mich Valentin dann via Whatsapp echt aufgemuntert. Da kam nicht nur allerhand Gehupe (Runtastic machts möglich) sondern auch Infos zu Brunnen und Geocaches in der Nähe. Einen hab ich mir dann sogar geholt.
Der Wald am Heitersberg war schön schattig. Ich liess mir Zeit. Allmählich überwand ich die Krise.
Bergab gelangte ich dann direkt nach Killwangen, am Bahnhof (km 31) gabs noch einen Redbull.
Ca. 13 Uhr nach 32 km erreichte ich die Limmat, die Freude war gross.
Ab jetzt war zumindest das Finden des richtigen Weges kein Problem mehr. Der Weg war gut und das Redbull wirkte. Mir gings besser, Krise überwunden. Ich kam an vielen Grillstellen vorbei, und war an der Limmat bei dem schönen Wetter nicht alleine unterwegs. Überall Erholungssuchende, Hundehalter, Jogger, ein buntes Treiben.
Bei 41 km dann Ankunft in Schlieren, ich musste an den Neujahrsmarathon denken. Im Lidl dort kaufte ich mir einen leider eklig schmeckenden Proteinriegel, 2 kleine Packungen Haribo-Tropifrutti (entpuppte sich als super Rennernahrung!) Und 750ml Eistee zum Auffüllen meiner Getränkevorräte.
Mein Zustand zu dem Zeitpunkt: Es tat nicht mehr so schlimm weh beim Laufen aber mir war immer mal wieder übel. Ich musste das Lauftempo deswegen öfters bewusst zurückschrauben. Irgendwann an der Limmat (es muss kurz nach dem Lidl so bei km 42 gewesen sein, fiel mir dann auf, dass ich mich in einem Trancezustand befand. Wohl der Zusstand der oft als „Autopilot“ bezeichnet wird. Alle Schmerzen waren weg. Das Laufen funktionierte von alleine. Mein Geist war fixiert auf den Untergrund vor mir, um nicht zu stürzen und damit war er voll ausgelastet, ich war nicht fähig etwas anderes zu denken. Ich verlor das Gefühl für die Zeit, es war als hätt ich ewig so weiterrennen können.
In diesem eigenartigen Delirium ganz ohne Schmerzen und Übelkeit aber mit Tunnelblick blieb ich fast 2 Stunden.
Irgendwo in Zürich wurd ich dann wieder wach und sofort wurds mir wieder schlecht, weils bergauf ging und ich musste wieder über den richtigen Weg nachdenken. Auch die schweren Beine kamen in abgeschwächter Version zurück. Keine Fersenschmerzen. Bei ca. Km 56 schaute ich von oben auf Zürich herunter, ich fühlte mich schlapp aber war optimistisch. Wenn die verdammte Übelkeit nicht schlimmer werden würde, würd ichs schaffen. Zu dem Zeitpunkt (es war kurz vor 17 Uhr) war klar, dass ich es nicht vor 18 Uhr bis nach Illnau schaffen würde (dort wollte Valentin dazustossen). Zum Glück hatte ich meine Stirnlampe eingepackt.
Als ich nordöstlich Zürich verliess, kam ich noch direkt beim Bahnhof Stettbach vorbei und kaufte mir den dritten und letzten Energydrink des Tages. Das Zeug half einfach sensationell gegen die Übelkeit, wenn auch nicht besonders lange.
Am Chrisibach bei Wangen hatte ich dank Ok Mango jedenfalls wieder ein Hoch und konnte wieder in den Autopilot-Modus wechseln. Es macht es so viel einfacher, wenn man nach ca. 58 km nicht mehr über den Weg nachdenken muss!
Die letzten 3 km vor Illnau (mittlerweile wars 18 Uhr) hab ich mich dann mächtig gequält. 500 m vorm Dorf wars so schlimm, dass ich mich neben die Strasse gelegt hab. Mir war einfach nur speiübel. Die Sonne war dabei unterzugehen. Nach kurzem Herumliegen hab ich dann auch noch gezittert. Zum Glück hatte ich ja noch die Jacke vom Morgen dabei, ich zog sogar die Kapuze hoch. Mir war übel und kalt.
In diesem desolaten Zustand, nach gut 10 Stunden Schweigen und Kampf mit mir selbst, traf ich auf den noch frischen, sportlich rumspringenden (es war frisch) Valentin und alles wurde besser. Erstmal hat er festgestellt, dass ich wohl zu wenig gegessen hätte und mir nen (leckeren) Proteinriegel verfüttert. Dann gings gemeinsam los. Letzte Etappe. Nur noch 3 Dörfer bis Rikon.
Es war dann doch noch recht beschwerlich, ab 19:30 Uhr waren wir froh über das Licht meiner Stirnlampe. Es ging noch einige Höhenmeter nach oben und zum Schluss (aua aua aua!!!) eine nicht enden wollende Treppe bergab. Wir haben beide gefroren.
Kurz vor Valentins Haustür erreichte das Tracking dann die unglaubliche Schnapszahl 77.77 km und ich hab es feierlich gestoppt. Mission completed 🙂.